
Menschliche Begegnungen in Kalkutta
An den Tagen, an denen wir in Bhojerhat in der Ambulanz arbeiteten , fuhren wir im Stadtteil Topsia an Häusern vorbei, deren Dächer mit jeweils verschieden gefärbten Rindsledern zum Trocknen behangen waren. Die teilweise kräftigen Farben stachen einem direkt ins Auge und konnten sich sehr wohl gegenüber den farbigen Werbeplakaten behaupten .
In der alten Ambulanz in Topsia hatten wir auch immer ein paar Patienten aus der Leder-Industrie mit speziellen Hauptproblemen.
Inspiriert von dem Bericht zweier Kollegen, fühlte ich mich noch mehr motiviert, das Färberviertel zu erkunden.
Nach einem etwas abenteuerlichen Weg über die Bahnanlagen erreichte ich das Fabrikgelände. Das Tor stand offen, ein Arbeiter duldete mit dem bekannten indischen seitlichen Kopfnicken das Eindringen auf das Gelände.
Überall waren Lederreste zu sehen. Es roch säuerlich, wie wir es von der Straße nach Bhojarhat kannten, an der große Lederfabrik steht.

Einige Arbeiter saßen auf den Boden und nähten Rinderhäute zusammen. Danach wurden diese mit einer Flüssigkeit gefüllt und hingen wie gefüllte Presswürste an einem Gestell.

Bald kamen die ersten Arbeiter kritisch dreinschauend, dann doch freundlich grüßend. Eine kleine Gruppe begleitete mich im weiteren. Allein als Frau fühlte ich etwas Unbehagen. Leider war die Kommunikation eingeschränkt, bis ein Mann mich auf Englisch ansprach, weshalb ich hier sei. Ich überzeugte ihn von meinem privaten Interesse an der Herstellung dieser leuchtenden Leder – no officiall!!
Dies brach das Eis und sehr freundlich nahm er mich mit in seine kleine Fabrik, zeigte alle Maschinen und erklärt mir die Lederbearbeitung :
Zuerst werden die Ränder des Leders sauber beschnitten, anschließend kommen 500 solcher Rindsleder in eine Trommel und werden mit einer Lösung gereinigt. In einer zweiten Trommel werden sie gefärbt. Frauen , mit Plastiksäcken auf den Rücken bedeckt, tragen dann diese farbigen, schweren, nassen Leder über Leitern auf das Dach zum Trocknen. Eine mit Sandpapier bestückte Schleifmaschine bearbeitet zum Schluss die Oberfläche samtig-weich.
Von diesen Fabriken, alles Familienunternehmen, gibt es viele auf dem Gelände. Männer, Frauen und Kinder – alle arbeiten mit. Es ist eine geschlossene community aus Bihar. Sie kaufen die Häute aus der Fabrik, verarbeiten diese und versenden sie dann nach Europa und Amerika zum Beispiel zur Herstellung von Handschuhen.
Zu guter Letzt fuhr mich der Fabrikant mit seinem Motorbike noch durch die schmalen Gassen bis zum Bus an die Hochstraße.

Meine guten menschlichen Erfahrungen in Kalkutta wurden damit um eine weitere bereichert.
Von den German Doctors in Howrah erfuhr ich, dass Helgo und sein Sohn Martin zur Zeit in Kalkutta sind und sie sich am Samstagmorgen treffen wollen. Unsere erste Begegnung mit Helgo und seinem Projekt HELGO (Help for Education Life Guide Organisation) 2015 hatte uns nachhaltig beeindruckt. 2019 hatten Bettina und ich das Projekt zum letzte Mal besucht und von der Fortführung an einem weiteren Standort nahe des Müllberges erfahren.

Nach einem herzlichen Wiedersehen in der ehemaligen Boardingscool führten Martin und Helgo uns zusammen mit zwei ehemaligen Schülern aus dem Slum in Tikiapara entlang der Bahngleise durch das Ghetto. Beide Schüler haben die 12. Klasse inzwischen abgeschlossen. Einer von ihnen, welcher mit 6 Jahren alkoholanhängig und Raucher war, macht inzwischen seine Ausbildung als Koch, der andere Schüler studiert Informatik, dank des Helgo-Projektes.

Nichts, gar nichts hatte sich an dem Platz verbessert. Von der ehemaligen dortigen Ambulanz der German Doctors existierten nur noch Restmauern, der größte Teil war von Bulldozern weggebaggert wurden. Planen ersetzen nun Dach und Wände der ärmlichen Behausung.

Die Lebensbedingungen der Familien sind unverändert unvorstellbar unmenschlich und unwürdig. Mit freundlichem Gesicht beantworteten sie unsere Fragen, erlauben einen Blick in ihre ärmlichsten, engen Behausungen, ließen sich fotografieren. Wie kann man das nur aushalten und jeden Tag neu Lebenskraft finden?

Da sind solche langjährigen Projekte wie HELGO für die Kinder aus dem Slums eine Chance, denn jeder Einzelne zählt! Auch ich finde hier wieder Bestärkung unseres Tuns, als German Doctors.

Nach dem sehr emotional ausgefüllten Tag fuhren Hartmut und ich am Abend wieder aufs Land – nach Hause 🙂 zu unserem ASHA Projekt, denn Sonntags beginnt unsere Arbeitswoche. Ein bisschen freuten wir uns auf die ländliche ruhigere und grünere Landschaft …